[Hier nun auch die vollständige Version des Artikels zu Politik 2.0 – ursprünglich von Ole Wintermann und mir am 23.01.2013 im Blog des Government 2.0 Netzwerk Deutschland e.V. veröffentlicht.]
Der Alltag der Bürgerinnen und Bürger findet heute in einer Gesellschaft statt, die sich gegenüber der vor der Jahrtausendwende grundlegend verändert hat. Wir leben in einer Welt, die sich durch Globalisierung und offene, agile Vernetzung in allen Lebensbereichen auszeichnet. Besonders augenfällig wird dies nicht alleine in der rasanten Entwicklung des Web 2.0. Weite Teile der Wirtschaft haben erkannt, dass diese Veränderungen zur Folge haben, dass sich Kunden nicht mehr alleine als Konsumenten sehen. Unternehmen binden daher ihre Zielgruppe in Innovationsprozesse ein und treffen strategische Produktentscheidungen im Diskurs mit ihren Kunden. Sie öffnen sich. Die Politik ist längst nicht soweit.
Politik scheint an vielen Stellen nicht bereit, sich auf die Konsequenzen der sich bildenden Netzwerkgesellschaft einzustellen, ihre Prozesse zu öffnen und transparenter zu gestalten, Bürgerinnen und Bürger angemessen zu beteiligen. Dies führt bereits heute zu einer Legitimationskrise der Politik. Wollen wir diese Krise bewältigen und unser politisches System für die Herausforderungen der “Gesellschaft 2.0” aufstellen, benötigen wir eine “Politik 2.0”.
Da sich die Debatte um Open Government und Politik 2.0 aber teils sehr “um sich selbst dreht”, müssen gerade auf der nationalen und internationalen Ebene zunehmend konkrete Anwendungsfälle mitgedacht werden. Demografischer Wandel, Globalisierung und Klimawandel böten eigentlich viele Anknüpfungspunkte für diese konkreten Anwendungsbeispiele.
Die politischen Implikationen von Open Government
Es ist nicht ganz 40 Jahre her, dass die ersten Bürgerrechtsbewegungen, aus denen dann auch die Grünen entstanden sind, begannen, Partizipation und Transparenz im politischen Prozess einzufordern. Dies war eine Folge der Erfahrungen mit einem technokratisch auftretenden Politikbetrieb im Zuge der Atom-Debatte und der kommunalen Gebietsreformen im Verlaufe der 1970er Jahre. In den 1990er Jahren kamen dann zunehmend Freie-Wähler-Gruppen in den Landtagswahlen auf, die sich als Absage an die traditionellen Parteien verstanden.
Was all diese Bewegungen und Parteien geprägt hat, ist der Umstand, dass sie in Zeiten der Offline-Politik entstanden sind. Das Internet spielte (auch) in der Politik keinerlei Rolle. Das hat sich seit einigen Jahren geändert; nicht nur die Piratenpartei greift diese Gedanken der Transparenz und Partizipation auf und überträgt sie in das Online-Zeitalter. Längst hat sich eine internationale Bewegung zur Stärkung von Prinzipien des Open Government positioniert, die jenseits von Parteipolitik Ansätze zur offenen Regierungsweise befördern will.
Dabei ist Open Government als “ganzheitlicher Ansatz zur Belebung der Demokratie zu verstehen. Transparentes Regierungs- und Verwaltungshandeln stellt dabei die Grundlage dar. Es geht allerdings nicht allein darum, eine große Menge von Daten on- und offline zur Verfügung zu stellen, sondern auch darum, Bürgerinnen und Bürgern das notwendige Wissen für eine Teilnahme an Beteiligungsformaten zu vermitteln. In jedem Fall sollte die Veröffentlichung von Daten das berechtigte Bürgerinteresse nach Informationen in verschiedenen Bereichen (wie bspw. dem Verbraucherschutz) bedienen.”
Zur Zeit haben die Wähler in Demokratien zunehmend den Eindruck, dass die Politik nicht mehr fähig ist, mit gegenwärtigen globalen Problemen wie dem Klimawandel, der Finanzkrise oder den Folgen des demographischen Wandels umzugehen und nicht bereit ist, sie angemessen in die erforderlichen Entscheidungsprozesse einzubinden.
Es stellt sich die Frage: Hat diese Unsicherheit der Politik und der Wähler vielleicht mit einem nicht mehr tragfähigen politischen Prozess zu tun? Liegt die positive Perspektive in einer solchen Situation vielleicht in einer Art Politik 2.0, die sich der Methoden des Open Government annimmt, die konsequent eine Strategie der Offenheit verfolgt, um damit die zunehmend globalisierten und in komplexen Wechselwirkungen stehenden Probleme der Menschheit zu bewältigen? Können wir die häufig als Selbstzweck empfundene Open Gov-Debatte ein Stück weit als Werkzeug der Politik – was sie bisher in keiner Weise ist – platzieren?
Wir denken schon.
Politik 1.0: Die Renten sind sicher
Jahrzehntelang hat sich die politikwissenschaftliche Analyse in Deutschland wie auch im Ausland auf die Frage konzentriert, wie die politisch relevanten Institutionen – Wähler, Parteien, Regierungssystem, Mainstream-Medien – die Herausforderung bewältigen, innenpolitische und monokausale Aufgabenstellungen zu bearbeiten, innergesellschaftliche Konflikte oder Verteilungsfragen im Rahmen eines institutionell und thematisch begrenzten Rahmens zu regeln und einer Entscheidung zuzuführen. Die einzige Rolle, die dem Souverän in diesem traditionellen hierarchischen Analysemodell zukam, war die des Kreuzchen-Machens am Ende der Legislaturperiode. Dieser Logik entsprechend funktionierte der Politikbetrieb.
So war es bis zur Jahrtausendwende normal, sich für eine auf die Rentenreformen in den Mainstream-Medien konzentrierte inländische (Lager-) Debatte erstens Monate Zeit zu nehmen und zweitens sich dabei allein auf die Frage zu konzentrieren, welche Beitragserhöhung auf welchen soziodemografischen Haushaltstyp zukommen sollte. Es gab demnach ein klar umrissenes (innenpolitisches) Thema, einen bekannten institutionellen Rahmen, ausschließlich eine Analyse von Monokausalitäten (sachpolitische wenn-dann-Beziehungen ohne Rückwirkungen), Experten aus Wissenschaft und sozialpolitischen Institutionen, die häufig eine vorgefertigte gefestigte ordnungspolitische Idealvorstellung hatten, Redakteure in großen Tageszeitungen, die den Wählern die Welt erklärten und am Ende die Wähler, die alle 4 Jahre bei der Partei ihres Vertrauens ein Kreuzchen machen sollten. Waren Beschlüsse getroffen, galt auf Jahre hinweg: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – und Thema abgeschlossen.
Tradierte politische Systeme stoßen an ihre Grenzen
Diese vermeintliche Welt der Verlässlichkeiten und einfachen Wahrheiten gibt es aber nicht mehr. Es gab sie natürlich auch früher nicht wirklich. Es gab aber eine relativ gut sortierte und übersichtliche Meinungslandschaft zu wichtigen Themen, die es Medien und Parteien ermöglichte, in “die” und “wir” zu unterscheiden, ohne hierbei allzu viele Zwischentöne oder Schattierungen der Meinungen wahrnehmen zu müssen.
Die Herausforderung besteht nunmehr darin, dass dieses tradierte (tradiert = eingeübt) System in der bekannten starren Form nicht mehr ausreichend reaktionsfähig ist, die bisher relevanten Akteure aber weiterhin in diesem Kontext agieren wollen. Unsicherheiten über die zukünftige Rolle der bisherigen Autoritäten machen sich breit und verursachen, häufig aus Angst vor Kontrollverlust, bestimmte Reaktionen. Politische Akteure rennen entweder jedem neuen Thema hinterher in der Sorge, relevante Diskussionen zu verpassen oder aber sitzen Debatten aus, um sich am Ende dann der herausgebildeten Mehrheitsmeinung anzuschließen. Viele Wissenschaftler betonen nach wie vor ihre herausragende Rolle als “Experten”. Unbenommen der Bedeutung der Wissenschaft, lassen sie dabei außer Acht, dass die Crowd der politisch Interessierten und der vom jeweiligen Thema Betroffenen in aller Regel eine Lücke in ihrem Expertenwissen suchen, “erfahren” und finden wird. Journalisten erleben im Moment die Geburtswehen der Umdeutung und der Wandlung des Selbstverständnisses ihres ganzen Berufsstands. Ihre sonntägliche Glosse oder der Kommentar sind nur noch eine von vielen Stimmen im Chor der vernehmbaren Meinungen. Eindeutige Wahrheiten gibt es nicht mehr, die Welt scheint komplizierter geworden zu sein. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dieser Unsicherheit umzugehen: Erstens ist dies der Versuch der allumfassenden rigiden Kontrolle von Prozessen, Inhalten, Verhaltensweisen und Personen. Zweitens ist dies die Möglichkeit, diese Vielfalt der Sichtweisen auch als Vielfalt von Ideen und Innovationen zu begreifen und für die Politik zu nutzen.
Anwendungsfall Demografie: Renten- oder/und Klimadebatte?!
Während ehemals die Bewältigung der Folgen des demographischen Wandels darin bestehen sollte, für sichere Renten Sorge zu tragen und einfach die Produktivität – alternativ die Sozialbeiträge – zu steigern, zeigt sich nun zunehmend die Kurzfristigkeit einer solch monokausalen Betrachtung einer komplexen demografischen Herausforderung. So können mit einer Produktivitätssteigerung zwar einerseits die Folgen der Demografie finanziert werden, gleichzeitig würden aber andererseits die negativen Folgen eines nicht-nachhaltigen Wachstums durch den Klimawandel zunehmen. Im Jahre 2002 verabschiedete die Demografie-Kommission des Deutschen Bundestages ihren Abschlussbericht; keinem der in 10 Jahren Anhörungen beteiligten Experten ist anscheinend die Frage eingefallen, wie Wachstumsempfehlungen mit den klimapolitischen Folgen dieses Wachstums vereinbar sind. Es wurden aber auch keine Strategien der Implementierung der vielen sinnvollen Handlungsvorschläge entwickelt, so dass erst heute, nahezu 10 Jahre später, eine Website der Bundesregierung endlich den Weg zu den Menschen sucht (und daher jede Unterstützung verdient). Die Abgeschlossenheit des Prozesses hatte also zu einer eingeschränkten Sichtweise auf das Thema und zur mangelnden Verankerung der Herausforderung in der Bevölkerung geführt.
Politik 2.0 bietet viele Chancen
Politik 2.0 hätte bedeutet, den Prozess von Beginn an für interessierte Bürger zu öffnen, um Themen und Lösungsvorschläge frühzeitig durch die Crowd ergänzen und bewerten zu lassen. Hierbei darf man sich den Prozess nicht als rein basisdemokratischen ungelenkten Ansatz vorstellen, bei dem emergent ein Gesetz oder ein Kommissionsbericht gleichsam aus dem Nichts entsteht. Es geht vielmehr darum – diese Notwendigkeit haben viele offene, zugleich aber gelenkte sowie crowd-basierte Experimente der letzten 2 Jahre gezeigt – mit der Vorgabe klarer Spielregeln, durch das Abklären von Rollen und Erwartungen sowie durch das Setzen eines Ziels solche Prozesse, die Kennzeichen einer Politik 2.0 werden könnten, zu strukturieren.
Bei aller Strukturierung darf nicht übersehen werden, dass man kein Demografie-Experte sein muss, um erkennen zu können, dass die Frage nach den klimatischen Auswirkungen eines starken Bevölkerungswachstums vielleicht relevant sein könnte. Öffnung bedeutet auch nicht die formale Abgabe der Verantwortung über Beschlüsse am Ende eines Entscheidungsfindungsprozesses. Jeder Akteur und jeder Entscheider kann seine angestammte Rolle behalten, er muss sie nur den Gegebenheiten der Öffnung des Prozesses anpassen.
Was ist eigentlich diese Crowd?
Teilweise hat die Open Government Community in den letzten Monaten explizit darauf hingewiesen, dass die Globalisierung in Kombination mit der zunehmenden Anzahl von technischen Möglichkeiten zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen eine große Chance darstellt, um sich den globalen Herausforderungen zu stellen. Die Erfahrungen, die beim Werben für diesen Ansatz gemacht wurden, waren immer wieder von der Gegenfrage geprägt, was oder wer denn eigentlich diese Crowd sei und wieso sie denn mehr Kompetenz besitzen solle als die anerkannten langjährigen Experten.
Manch klassischer Experte scheint in diesem Kontext einem Missverständnis des Begriffs der Crowd aufzuliegen: Der einzelne “Nicht-Experte” wird nicht fähig sein, dem langjährigen Experten noch etwas “beibringen” zu können. Es sind aber die einzelnen Akteure innerhalb des Schwarms, die es durch extrem kleinteilige Aufgabenteilung schaffen, dass 1+1=3 ergibt. Wenn sich 300 Studenten auf eine neue Publikation ihres Professors “stürzt”, um Fehler oder interessante neue Fragen zu finden und jeder sich auf einen kleinen Abschnitt des Gesamtwerks konzentriert, wird das Ergebnis mit Sicherheit eine bessere Qualität aufweisen als wenn der Experte das Buch selbst bzw. allein konzeptioniert und editiert hätte. Es ist die Aufgabenteilung innerhalb der Crowd, die in der Summe der kleinteiligen Aufgabenerledigungen zu mehr als der Summe der Einzelteile führt.
Politik kann nur eine Beta sein – erste Schritte wurden vollzogen
Alte Parteiwahrheiten als Reflex auf das Interesse Außenstehender helfen in dieser Situation nicht weiter. Parteien verlieren aufgrund ihrer verfestigten Rituale die Fähigkeit der Interaktion mit neuen Wählertrends und die Fähigkeit, neue Themen ergebnisoffen aufzugreifen. Die Entscheidung eines Bundesparteitages ist im Moment ihrer Beschlussfassung bereits wieder veraltet. Wir sollten in der Politik damit leben lernen, dass es nur noch eine Politik der Beta-Versionen geben kann. Die Erarbeitung einer politischen Beschlussfassung muss dem Prinzip der offenen Weiterentwicklung folgen. Es kann nicht das eine wahre und dauerhaft finale politische Produkt geben. Es muss erlaubt sein, einen politischen Beschluss in einem offenen Prozess vorzubereiten, zu fassen und schließlich ab dem Tag der Beschlussfassung einer beständigen (damit ist nicht “täglich von neuem” gemeint) offenen Evaluation zu unterziehen und wieder zu modifizieren. Politische Regeln und Entscheidungen müssen lebendig bleiben, sollten “atmen” und sich evolutionär weiter entwickeln können.
Die Internet-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hat bereits wichtige Beschlüsse zur Aufnahme und Anwendung von internetbasierten Verfahren in zukünftigen Gesetzgebungsverfahren gefasst. Diese Richtung muss weiter unterstützt und verfolgt werden. Hierbei muss es darum gehen, dem tradierten Parteiensystem nicht die bipolare (rechts-links) Deutungshoheit über diese Entwicklung zu überlassen. Die letzten Parteitage der Alt-Parteien haben deutlich gemacht, dass es schon längst nicht mehr um eine ergebnisoffene Debatte oder um die Wahl zwischen verschiedenen Führungspersonen geht. Mit einem solchen verfestigten System sind die globalen Herausforderungen, die alle einer komplexen Wechselwirkung und offenen Vernetzung unterliegen, nicht zu bewältigen.
Das Wissen, dass bei Analyse der Wechselwirkungen zwischen Demographie und Klimawandel, zwischen destruktivem und nicht nachhaltigem Wirtschaftswachstum auf der einen und dem Verlust der Vielfalt der biologischen Lebensgrundlagen auf der anderen Seite, erst erzeugt werden muss, muss kurzfristig Eingang in die Politik finden können. Dafür benötigt das politische System mehr Offenheiten: Offenheit der politischen Entscheider, der Experten, des Gesetzgebungsverfahrens. Es wird eine Politik 2.0 benötigt.