Kulturelle Teilhabe ist nicht per se gegeben. Sie ist kein freiwilliges Entgegenkommen, sondern ein Menschenrecht, dessen Umsetzung einige Anstrengung erfordert. Digitalisierung kann helfen, kulturelle Teilhabe zu realisieren, zu verbessern, zu sichern und damit diesem Recht die angemessene Geltung zu verschaffen.
Artikel 27 Absatz 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” lautet:
„Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.”
Damit erkennt die UN-Menschenrechtscharta das Recht eines jeden Menschen auf Teilhabe am kulturellen Leben an und fordert dessen Umsetzung ein. Hierzu gehört, sowohl das eigene kulturelle Erbe erleben und erfahren als auch das kulturelle Leben anderer erlernen zu dürfen. Der Anspruch erstreckt sich zudem auf den diskriminierungsfreien Zugang zum wissenschaftlichen Fortschritt und zu wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Die Digitalisierung kann helfen, den Zugang zu Kulturgütern und Wissen zu realisieren, zu sichern und so die kulturelle und wissenschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu verbessern. Dass und wie dies möglich ist, zeigen bereits eine Reihe Projekte und Angebote.
Viele Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen („GLAMs” – engl. Abkürzung für Galleries, Libraries, Archives, Museums) nutzen moderne und innovative Technologien, um ihre Bestände zu digitalisieren, aufzubereiten und bereitzustellen. Zwei Beispiele sind die Deutsche Digitale Bibliothek und die Bayerische Staatsbibliothek:
Deutsche Digitale Bibliothek: Aufgabe und Ziel der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) ist es, jedem online einen freien und zentralen Zugang zum kulturellen und wissenschaftlichen Erbe Deutschlands zu ermöglichen. Seit Sommer 2007 arbeiten Bund, Länder und Kommunen an der Umsetzung dieses Ziels. Perspektivisch soll die DDB die digitalen Angebote aller deutschen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen miteinander vernetzen. Die erste öffentliche Beta-Version ist im November 2012, die erste Vollversion Ende März 2014 online gegangen. Als zentrales nationales Portal trägt die DDB mit ihrem Bestand digitalisierter Kunst- und Kulturgüter zur europäischen virtuellen Bibliothek Europeana bei.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereits seit 1997 ist das Münchener DigitalisierungsZentrum (MDZ) als zentrale Innovations- und Produktionseinheit der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) u.a. damit befasst, die Bestände der BSB im Internet zu veröffentlichen. Mitte November 2019 konnte die BSB ihr 2,5-millionstes Digitalisat online stellen. Damit waren zu diesem Zeitpunkt rund 70 Prozent des urheberrechtefreien Bestands der Staatsbibliothek frei für Wissenschaft, Forschung und Öffentlichkeit über das Netz zugänglich. Die digitalen Sammlungen der BSB umfassen u.a. Handschriften, alte Drucke, Karten und Bilder, Lexika, Zeitschriften, Zeitungen und Fotografien.
Digitalisierung kann auch den Denkmalschutz, als Teil des Kulturgutschutzes, dabei unterstützen, dessen Ziel zu erreichen, Denkmäler als Teil des kulturellen Gedächtnisses dauerhaft zu erhalten und zu sichern. Ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen (NRW):
denkmal.nrw: Die Online-Hilfe denkmal.nrw unterstützt Städte und Gemeinden in NRW dabei, ihre Denkmallisten digital zu erfassen, zu pflegen und zu veröffentlichen. Die Kommunen als zuständige Untere Denkmalbehörden erfassen ihre Einträge entweder über eine Benutzeroberfläche oder spielen ihre Listen in einem standardisierten Format in die Datenbank ein. Soweit datenschutzrechtlich zulässig, werden die Daten dann über entsprechende Online-Angebote, wie z.B. das Geoportal des Landes NRW, veröffentlicht. Dies ist sowohl für die Verwaltung als auch für die Sicherung und Erleichterung der kulturellen Teilhabe von hohem Nutzen. Diesen formulierte Ministerin Ina Scharrenbach in ihrer Pressemitteilunganlässlich der Bereitstellung des digitalen Angebots wie folgt:
„Baudenkmäler sind Teil des Gedächtnisses unseres Landes. Durch das vom Ministerium zur Verfügung gestellte Online-Tool denkmal.nrw ermöglichen wir es, dass zukünftig viele Bürgerinnen und Bürger zu diesem Gedächtnis Zugang bekommen. Die Digitalisierung und Veröffentlichung der Denkmallisten ist ein wichtiger Schritt hin zu einer modernen und transparenten Denkmalpflege. Durch die Veröffentlichung der Daten können Informationen zu einzelnen Denkmälern zudem einfacher und schneller bei Planungen und Genehmigungen berücksichtigt werden.”
Offene Kulturdaten
Ganz neue Möglichkeiten können erschlossen werden, wenn die Bereitstellung der digitalen Bestände tatsächlich frei verfügbar, d.h. nicht nur frei zugänglich, sondern auch uneingeschränkt nutzbar als offene Kulturdaten (Open Data) oder kulturelle Gemeingüter (Cultural Commons) erfolgt. Welche Möglichkeiten dies sind, zeigen z.B. die beiden folgenden Initiativen:
{COD1NG DA V1NC1}: Seit 2014 veranstalten die DDB, das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS), die Open Knowledge Foundation Deutschland und Wikimedia Deutschland den ersten deutschen Kultur-Hackathon „Coding da Vinci„. Ziel ist es, technisch und kulturell interessierte Communities mit deutschen Kulturinstitutionen zu vernetzen und anhand ganz konkreter Beispiele sowohl bei den GLAMs als auch in der Öffentlichkeit den Nutzen offener digitaler Kulturgüter zu verdeutlichen. Übliche Hackathons erstrecken sich über zwei Tage, i.d.R. ein Wochenende. Das Format von Coding da Vinci weicht hiervon bewusst ab. Es wird in einem mindestens sechswöchigen Sprint, eingeleitet durch ein zweitägiges Kick-Off-Event gearbeitet. Dieser größere Zeitrahmen ermöglicht den Beteiligten, das vorliegende Datenmaterial besser kennenzulernen und zu verstehen, Ideen zur Nutzung zu generieren und sich in Teams zusammenzufinden. Diese realisieren dann funktionierende Prototypen, die bei einer Abschlussveranstaltung mit Preisverleihung der Öffentlichkeit präsentiert werden. Über die Jahre wurden in diesem Rahmen mehr als 50 Anwendungen, Websites und Apps realisiert, die auf über 100 Datensets von 60 Kulturinstitutionen basieren. Sowohl die Datensets als auch die Quellcodes der Projekte stehen der Allgemeinheit unter offener Lizenz zur Verfügung. Das Projektarchiv von Coding da Vinci bietet Informationen und Zugang zu allen Projekten, die im Rahmen des Hackathons entwickelt wurden. Die Ergebnisse lassen erkennen und erleben, welches Potenzial in frei zugänglichen und nutzbaren Kulturdaten liegt.
Open Culture BW meets VR: Mit ihrer Initiative „Open Culture BW meets VR” macht die MFG Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg auf dieses Potenzial aufmerksam. Die Initiative bringt Kultureinrichtungen mit Studierenden und Experten aus dem medientechnischen Bereich zusammen, um neue Ansätze und Prototypen aus den Bereichen Virtual, Augmented und Mixed Realities auf Basis offener Kulturdaten zur Präsentation von Kulturgütern zu entwickeln.
Die Digitalisierung wird häufig alleine als Mittel angesehen, das Unternehmen hilft, bestehende Wertschöpfungsketten zu optimieren und neue zu schaffen. Das wird den Chancen, die die Digitalisierung insgesamt bringt, nicht gerecht. Sie hilft gerade im Kulturbereich auch, gesellschaftlich wichtige „Nutzenschöpfungsketten” zu erschließen. Digitalisierung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Bewahrung, Sicherung und möglichst freien und offenen Zurverfügungstellung unseres kulturellen Erbes und damit zur Umsetzung des Rechtes aller Menschen auf kulturelle Teilhabe.
Hinweis: Eine etwas anders formulierte Variante dieses Beitrags des Autors wurde im vergangenen April unter dem Titel „Open Culture: Digitalisierung als Kulturförderer” auf dem Blog „Digitale Exzellenz” von Sopra Steria veröffentlicht.